Rügens stiller Westen

Rügens stiller Westen analog (c) Lomoherz

Rügens stiller Westen

Ich hatte ganz vergessen, wie schön Rügen ist.

Nicht die Ostseebäder, nicht die Kreidefelsen oder das unheimliche Prora. Die sind auch schön (bis auf Prora). Sehr schön sogar, bisweilen imposant. Aber abseits der ausgetretenen Pfade gibt es noch ein anderes Rügen, vielleicht ein ursprünglicheres Rügen.

Dort, wo kopfsteingepflasterte Alleen zu alten Gutshäusern führen und anliegende Inseln hoffentlich niemals aus ihrem Dornröschenschlaf erwachen. Rügen selbst nennt diese Region den „stillen Westen der Insel“.

Die hervorstechenden Farben: Grün in allen Schattierungen, backsteinrot, boddenblau und an diesem Wochenende: sturmgrau.

Als ich die Rügenbrücke kurz hinter Stralsund passiere, habe ich das anstrengende Meeting, in dem ich noch vor einer halben Stunde fußwippend saß, sofort vergessen. Rügen macht irgendetwas mit einem. Vielleicht liegt es an dem (noch) schönen Wetter, denn ich halte instinktiv Ausschau nach einem klapprigen Stand mit Eingemachtem am Straßenrand, nach Kirschen zum Selberpflücken oder Männern mit Strohhüten, die in hochgekrempelten Hemden das Sommergras sensen. Natürlich noch alles viel zu früh. Aber vielleicht geht es auch nur mir so, weil ich die Bilder meiner Großmutter vor Augen habe, wie sie im Weizenfeld steht, sich die Haare aus der Stirn hält und gegen die Sonne blinzelt. Hier auf Rügen arbeitete sie in einem der unzähligen Herrenhäuser als Köchin, nachdem sie aus Hinterpommern vertrieben worden war.

Und noch etwas fällt sofort auf: im Mai steht Rügen vollends im Raps, der dieser Insel Glanz und Gold verleiht. Die Felder reichen hier bis an die Häfen heran, bis in die Gärten hinein.

Die Route

Meinem eigentlichen Plan, mit Radl und Picknickkorb durch die Felder zu fahren, wurde nach der ersten Nacht in Samtens, im Südwesten der Insel, ein jähes Ende bereitet. Regen setzte ein und sollte bis zu meiner Abfahrt am Sonntagvormittag nicht mehr aussetzen. Mein Auto musste her, was die Idylle zwar ein wenig schmälerte, dafür aber einen Abstecher auf Ummanz zuließ.

Ohne Karte oder besonderes Ziel machte ich mich auf, den ländlichen Teil dieser Insel zu erkunden, auch wenn er nie weit von den tosenden Küsten der Bäderorte entfernt ist. Die Route rekonstruierend, muss ich ungefähr hier entlang gefahren sein:

Ich hatte keinen Reiseführer, keine Insidertipps auf Lager. Die wenigen Bundesstraßen auf der Insel zu verlassen, ist jedoch Geheimtipp genug, denn die kleinen Straßen und Wege führen von einer Entzückung zur nächsten.

Landow

An meinem ersten Halt wäre ich beinahe vorbeigefahren. Die Kultur- und Wegekirche Landow liegt etwas versteckt zwischen riesigen Kastanienbäumen und einer kleinen Obstplantange. Obwohl ich keiner Religion angehöre, betrete ich unheimlich gerne alte Kirchenhäuser. Mich fasziniert einfach der Gedanke, welche Kraft diese Orte einst ausstrahlten, die wechselnde Zugehörigkeit, die Architektur, die verschiedenen Epochen, die sie schon überdauert haben.
Die Kirche in Landow hat ein sehr spannendes Interieur, erscheint im Vergleich zu anderen konservativ-gestalteten Kirchen geradezu ausgefallen und ist außerdem Teil der europäischen Route der Backsteingotik.
Das Beste ist allerdings, dass sie trotz ihres fast geheimen Standortes immer noch ein Ort der Versammlung, der Kultur ist: Jedes Jahr wird dort der Landower Musiksommer mit Gottesdiensten, Konzerten, Filmen, Theater und Ausstellungen veranstaltet. Letzten Sonntag fand in der Kirche zum Beispiel ein Best of Scotland Konzert statt: Folk – North Sea Gas.
Das ultimative Ziel des Projekts Kultur- und Wegekirche? Es will den Besuchern einen „magischen“ Ort und Raum erschließen. Das haben sie meiner Meinung nach geschafft.
Die Kirche ist von Ostern bis Ende Oktober täglich von 9 bis 19 Uhr geöffnet.

Rügen

Endlich habe ich ihn gefunden, den Stand mit dem Eingemachten! Auch wenn die Nachbarziegen mich anblöken, als wäre ich eine gewiefte Diebin! Bezahlt habe ich, ich schwör’s.

Wo genau verläuft jetzt hier der Wanderweg Richtung Klein Amerika?

Bauer Lange

Bauer Lange in Lieschow, was soll ich sagen: der war mir gleich sympathisch. Zuerst wollte ich gar nicht anhalten, weil M-V in regelmäßigen Kilometer-Abständen mit Erlebnisbauernhöfen lockt. Aber Bauer Lange hat sich ein paar Besonderheiten bewahrt: man kann Dumperrallye fahren (inklusive Dumperdiplom!:), man kann sich zum Jungbauern ausbilden lassen, es gibt saisonale Küche und ausschließlich regionale Produkte im Hofladen. Und es gibt die Antikscheune. Darin findet man keinen Krimskrams, der auf Antik getrimmt wurde, sondern einen richtigen (und tollen) „Flohmarkt“, der das ganze Jahr über geöffnet hat. Alte Kameras und frische Klamotten aus Schafswolle gibt es dort übrigens auch.

Rügen

Insel Ummanz

Die Insel in der Insel sozusagen – bzw. neben der Insel: Surfspots, Keramikwerkstätten und ein besonderes Licht machen die „stille Schwester Rügens“ aus. Die stille Schwester namens Dornröschen, 200 Einwohner stark und erst seit 1953 mit Strom versorgt. Quasi gleich nachdem die einzige Brücke, die von Mursewiek nach Ummanz führt, um 1900 errichtet wurde.

Wenn man etwas mehr Zeit auf Ummanz verbringen möchte, sollte man das Eiland unbedingt mit einer Kutsche oder mit dem Fahrrad erkunden. Einige Orte auf der Insel sind mit dem Auto nämlich nicht zugänglich.
Im Zuckerkuss in Wusse gibt es Caféspezialitäten, Wein und Interieur mit Wildblumen und Grashalmen zwischen den Zehen. Wer lieber aufs Wasser und auf Rügen blickt, sollte auf der Terrasse vom OstseeKaffee, einer schnieken Showrösterei in Waase, Platz nehmen.

Regentropfen auf der Linse.Gute Nacht, Ummanz (mit einem kurzen u)

Das Hotel

Übernachtet habe ich von Freitag bis Sonntag im Sporthotel Störtebeker in Samtens.
Das Hotel bietet – wie der Name schon vermuten lässt – ein riesiges Angebot an sportlichen Aktivitäten. Bei schlechtem Wetter könnte man sich ohne weiteres den ganzen Tag lang im Hotel beschäftigen – mit Schwimmen, Sauna, Freeclimbing, Badminton, Squash und mehr.
Die Ausrichtung des Sporthotels ist eindeutig. Was mir beim Hotelpart allerdings gefehlt hat, war die Liebe zum Detail, aber ich bin in dieser Hinsicht auch wirklich verwöhnt 🙂 Was mich als Hobbyfotografin sehr interessiert hat, sind die alten Schwarzweißaufnahmen von Sportlern, die die Hotelflure zieren. Das Personal bekommt 5 Sterne.

Gingst

An Gingst, nicht zu verwechseln mit Zingst, führt im Südwesten Rügens fast kein Weg vorbei. Und das ist eigentlich ganz schön, weil man sonst den bunten Marktplatz und die Historischen Handwerkerstuben verpassen würde. Leider hatte ich meine Spinner-Kamera nicht dabei, sonst hätte ich mich mitten auf den Markt gestellt und ein 360° Bildchen gemacht. Dann würde man sehen, dass sich diese beiden Häuser im Karree fortsetzen, kunterbunt und mit süßen Typografien versehen.

Ein Blick in die Historischen Handwerkerstuben, vor allem in den Verkaufsraum zum Wohlfühlen lohnt sich unbedingt: Der Besitzer bietet selbstgebackenen Kuchen, tiefschwarzen Insel-Kaffee und großartige Fotografien/Postkarten an.

Nationalpark Vorpommersche Boddenlandschaft

Für den Nationalparkt braucht es nicht viele Worte: echte Natur, Windwatten, dynamische Küstenveränderungen und das Wasser dabei stets im Blick. Der Park erstreckt sich von Darß-Zingst über Hiddensee bis in den Westen Rügens. Er ist der größte seiner Art in M-V und der drittgrößte Deutschlands. Das Besondere: er ist eine einzige Lagunenlandschaft.
Hier zu sehen: Kiebitzort, einer der westlichsten Punkte auf Rügen. Zumindest was dieses Bootshaus angeht.

Rambin

Habe ich schon erwähnt, dass ich Lost Places liebe? Den meisten Kommunen/Städten etc. ein Dorn im Auge, stellen sie mitunter richtige Foto-Paradiese dar. Und dieser Nervenkitzel! Schließlich könnte man jederzeit ertappt werden (wie, hier ist Betreten verboten?) oder feststellen, dass dieser verlassene Ort gar nicht so … verlassen ist.

In Rambin habe ich eine Kapelle entdeckt, die mir wirklich ein bisschen unheimlich war. Die Regenwolken ließen diesen Vormittag ganz schön dunkel erscheinen und der Weg zum Gebäude war nicht mehr als ein kleiner Trampelpfad, der zuerst an einem Sportplatz und später an ein paar leerstehenden Garagen vorbeiführte. Trotz der herrenlosen Atmosphäre, die diesen Ort umgab, prangte neben dem Eingang zur Kapelle ein ganz normales Klingelschild mit Namen. Die Türen waren verschlossen und es waren auch nur Teile des Innenbereichs durch die hohen Fensterscheiben einsehbar. Der Rest dieser Kapelle war zu einer Wohnung umgebaut? Aus der mich vielleicht gerade jemand beobachtete? Ich ging ein paar Mal um das Gebäude herum, machte ein paar Bilder und verschwand in meinen vom Regen quietschenden Schuhen wieder. Uuh.
Die Auflösung war dann leider nicht mehr so abenteuerlich 😉 Es handelt sich um eine Klosterkapelle aus dem 14. Jahrhundert, die gerne von einheimischen Künstlern für Ausstellungen genutzt wird.

Wer die im Norden weitverbreiteten Höfe von Karls liebt, wird den Bauernmarkt & Hofcafé Alte Pommernkate in Rambin einen Besuch abstatten müssen. Hier findet man ein ähnliches Sortiment an „Die gute alte Zeit“, etwas weniger Kitsch und Kinderparadies, dafür ausgefallene Möbel samt Dekoartikel sowie die großartige, leckere und wunderschöne Insel-Brauerei, die 2015 eröffnet hat.

Rügen

Zum Schluss

Wenn man über einzelne Orte oder Gebäude, die ganz offensichtlich Geld für die Sanierung benötigen und denen das hiesige Tourismus-Management mehr schadet als nutzt, hinwegsieht, ist Rügen tatsächlich überall schön. Richtet man sich nach Reiseführern und Broschüren wird man vor allem in die Seebäder und an die felsigen Küstenabschnitte gelockt. Daran ist nichts auszusetzen, aber ein Blick über den altbekannten Rügenrand lohnt sich allemal. Rügen ist groß genug, um die Touristenmassen, die den Reiseführern und Broschüren folgen, locker abzuhängen und trotzdem klein genug, um die Insel auf eigene Faust zu erkunden.

Bevor man die Insel wieder über die Rügenbrücke verlässt, sollte man unbedingt noch einen letzten Abstecher in Altefähr machen. Einfach zum Hafen runter, bis es nicht mehr weitergeht. Denn dort erhascht man den besten Panorama-Blick auf die Hanstestadt Stralsund (natürlich nicht bei Schietwetter;). Lecker Fischbrötchen und Störtebeker-Bier gibt es hier ebenfalls. Moin!

 

Alle Aufnahmen im Kleinbildformat (35mm) sind in meiner Praktica MTL 50 auf einem DM Paradies Film mit ISO 200 entstanden und anschließend auch bei DM (= Cewe) entwickelt worden.

hummel Vielen Dank an dieser Stelle an Reisehummel, dem Portal für Kurzurlaub in Deutschland. Sie haben mich nach Rügen eingeladen und die zwei Übernachtungen dort koordiniert und vermittelt. Der Post ist Teil der Kooperation, gibt aber ausschließlich meine persönlichen Eindrücke der Reise wieder. Vielen Dank für die tolle Unterstützung!

15 Comments
  • spontanvernunft
    Posted at 05:54h, 23 Juni Antworten

    Danke für diesen ausführlichen und tollen Beitrag. Macht Lust auf Rügen!

    • Lomoherz
      Posted at 19:35h, 24 Juni Antworten

      Super, Mission erfüllt 😉
      Dankeschön!

  • Antje
    Posted at 10:43h, 23 Juni Antworten

    Wieder ein tolle Blog und tolle Bilder. Ich würde am liebsten gleich losfahren.. das Wetter passt jedenfalls gerade zur beschriebenen Stimmung.
    Viele Grüße Antje

    • Lomoherz
      Posted at 19:38h, 24 Juni Antworten

      Danke, liebe Antje, das freut mich … auch von dir zu hören!
      Viele liebe Grüße und einen Seitenhieb für Petrus 😉

  • Anonymous
    Posted at 10:44h, 23 Juni Antworten

    Toll, trotz Regen so tolle Bilder- vielen DANK

    • Lomoherz
      Posted at 20:05h, 24 Juni Antworten

      Der Regen war wirklich ein bissen schade, aber dafür war die Ankunft auf der Insel umso spektakulärer! Da kam nämlich noch kurz die Sonne raus..
      Lieben Dank!

  • Kathleen Bergmann
    Posted at 11:43h, 24 Juni Antworten

    Da will ich als eingefleischter Ostseefan auch endlich mal hin! Wenn es nur nicht so ewig weit weg wäre!

    • Lomoherz
      Posted at 20:08h, 24 Juni Antworten

      Dabei ist es fast ein Katzensprung vom Darß 😉 Beim nächsten Besuch vielleicht? Aber es stimmt natürlich, die Entfernung von dir aus ist schon heftig, da bist du ja fast schneller am Mittelmeer 😉

  • kuhnographphotography
    Posted at 14:54h, 25 Juni Antworten

    Ganz toller Beitrag. Ich bin sowas von überfällig was den Urlaub angeht… Und ich konnte förmlich spüren wie schön es dort sein muss. Ich bin hin und weg 😉
    Und ich muss jetzt die Planung dringend wieder aufnehmen…

  • Paleica
    Posted at 10:42h, 23 Juli Antworten

    oooh ja, das ist wirklich wunderschön! ganz toll, ich mag auch die etwas düstere stimmung total gern, besonders, bei den 32 grad, die es bei mir im büro grade hat.
    sagte ich eigentlich schonmal, dass ich dein logo wuuunderschön finde? ich glaube nicht – ist mir grade aufgefallen 😉

  • Lord Canis
    Posted at 19:24h, 28 Juli Antworten

    Vielen Dank für diesen tollen Artikel! Es tut immer wieder gut, zu sehen und zu lesen wie toll unsere Insel ist. Wenn man täglich hier unterwegs ist und/oder einfach lebt rückt diese Tatsache schon mal schnell in den Hintergrund. Klasse Bilder 🙂

    • Lomoherz
      Posted at 19:14h, 30 Juli Antworten

      Rügen verdient die Wertschätzung auf jeden Fall, aber ich weiß, was du meinst. Am Meer aufgewachsen zu sein hat nicht immer die gleiche Beduetung für mich gehabt, wie heute…
      Vielen lieben Dank für die netten Zeilen!

  • Pingback:Die gute alte Hafenrundfahrt - Lomoherz
    Posted at 20:16h, 17 September Antworten

    […] eine Stunde den Hafen vor der Hansestadt Stralsund erkunden. Der Strelasund ist das Gewässer, das Rügen vom Festland trennt. Jede Stunde legt ein Boot mit Aussicht ab und fährt die neue Rügenbrücke […]

  • Ina
    Posted at 19:36h, 22 Februar Antworten

    Toller Bericht mit tollen Fotos! Ich hab mein Herz an Rügen verloren und mag auch besonders die wilden Seiten. Wir fahren jedes Jahr nach Wittow in den Norden, den Westen werde ich auch mal erkunden.

  • Wolfgang Schulz
    Posted at 16:36h, 23 Februar Antworten

    Schöne Fotos tolle Tips , wir fahren immer nach Baabe und erkunden dann Rügen. Wir lieben die Insel.

Post A Comment

n/a