Seid bereit, immer bereit.

Leben in der DDR

Seid bereit, immer bereit.

Donnerstag, 09. November 1989 – meine Eltern sind 36 und 38 Jahre alt, meine Brüder 16 und 14, ich bin 3. Ich habe keine Erinnerungen an diesen Tag, aber wenn ich heute die Dokus, die Filme, die Zeitzeugen sehe, bekomme ich große Gänsehaut. Meine Mutter war die Tochter einer Vertriebenen aus Hinterpommern, mein Vater ein Zonenkind, die Grenze, keine Mauer, sondern ein Stacheldrahtzaun, keine 200 Meter von seinem Elternhaus entfernt. Wenn sie später seine Eltern besuchten, mussten sie am Schlagbaum ihre Passierscheine zeigen. Fehlte ein Schein, endete die Fahrt dort, 2 km vor dem Heimatdorf. Die Tanten und Onkel im Westen, wir im Osten. Manchmal lagen 800 km zwischen uns, wie zu meiner Großtante, die in Kaiserslautern lebte, manchmal nur ein paar hundert Meter, dort, wo die Grenze mittenmang lief und die Familie trennte.

 

In der letzten Woche vor dem Jubiläum hörte man vor allem eine Frage: Und wo warst du, als die Mauer fiel?
Ich bin ein Kind der DDR, aufgewachsen mit Pittiplatsch, den DEFA-Märchen und Ampelmännchen, aber ich bin keine verlässliche Zeitzeugin. Keine Ahnung, da muss ich erst mal Mutti fragen.
1989 wohnten wir in einer der typischen Plattenbausiedlungen, meine Brüder trugen zu feierlichen Anlässen Pionier-Halstücher und in den Ferien fuhren wir zu den Großeltern in den Harz. An der Wand klebte eine riesige Fototapete, der Lada stand auf dem Betonparkplatz vor der Tür und die Innenhöfe brummten mit Kinderstimmen und flatternder Wäsche, kunterbunt. Ausreiseanträge und Fluchtgedanken wurden hinter Dederon-Gardinen beflüstert, die Westpakete brachten Kaffee und Schokoloade, manchmal Jeans oder Feinstrumpfhosen. Susi und Frank sind weg, sind nicht mehr aus Ungarn wiedergekommen, hieß es hinter vorgehaltener Hand, aber nicht so oft wie man meinen könnte. Fotodokus über wahnsinnige und misslungene Fluchtversuche geben später ein etwas anderes Bild. Die große Flucht nach dem Mauerfall blieb dennoch aus, zu tief die Wurzeln, zu groß die Hoffnung und das Vertrauen in Veränderung.

 

Leben in der DDR

Auf einmal durfte man seine Meinung offen aussprechen, auf einmal durfte man reisen, musste Preise vergleichen und sich für bestimmte Berufe nicht länger von westlichen Verwandten lossagen. Stattdessen klingelte man einfach an ihrer Tür, traf sich an der Mauer, umarmte sich, zum ersten Mal nach 40 Jahren. Freundschaft und die verlorene Zeit.

Zeuge der Emotionen wurde ich erst viel später und das ungläubige Gefühl der Freiheit auf den Gesichtern der Grenzübergänger von damals zu sehen macht mein Herz heute manchmal ganz groß.

Als die Aktuelle Kamera über die Grenzöffnung und den Mauerfall berichtet, mit Bildern, die noch keiner von uns so richtig glauben kann, liege ich übrigens mit Mumps im Bett.
Das ist Mamas Antwort auf meine Frage, wo ich heute vor 25 Jahren war.

 

Und wo warst du, als die Mauer fiel?

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Alle hier gezeigten Fotos stammen aus dem Lomoherz’schen Familienarchiv.

10 Comments
  • Sabine
    Posted at 12:31h, 09 November Antworten

    Eine echt berührende Geschichte – und dazu die tollen Bilder. Das Fotografieren liegt bei euch wohl in der Familie.
    Ich selbst bin 91 geboren, für mich ist die Mauer daher eine reine Geschichtssache und etwas völlig Abstraktes, weil es so unverständlich war – da schockt es mich immer wieder, wie kurz das alles erst her ist. Das dritte Reich kann man irgendwie noch so wegschieben von wegen „ist ja ewig her, sowas Irres würde uns heutzutage nicht mehr passieren“ (was leider auch nicht ganz stimmt)… aber die Mauer ist noch so nahe, dass man echt an der Menschheit zweifelt, wenn man die Berichte und Geschichten von damals liest…

    • Lomoherz
      Posted at 22:16h, 18 November Antworten

      Dankeschön, Sabine. Das stimmt, fotografiert wurde in der Familie schon immer gerne, aber für uns alle war/ist es nur ein schönes Hobby, nur mein Großcousin ist tatsächlich „Berufsfotograf“ geworden.
      Für mich ist das Ganze auch sehr abstrakt, weil ich eben keine Erinnerung an die Zeit habe und die Familiengeschichten nur aus Erzählungen kenne. Aber genau wie du bin ich immer wieder geschockt, wie präsent das Ganze scheinbar erst vor kurzem war…

  • Sandra
    Posted at 14:40h, 09 November Antworten

    Toll geschrieben! Und das Foto mit den „Vögeln“ <3 (an dieser Stelle erwähne ich, dass ich soooo froh bin, Besitzer einer Schwalbe zu sein) 🙂

    Wo war ich am 9.11.89?: Hochschwanger in Dortmund – mitten im "Pott" am Kaffeetisch. Geburtstagsfeier des Kindesvaters.
    ARD/ZDF berichteten und wir schauten gespannt, sprachlos & voller Freude dem Geschehen zu.

    Das Töchterchen kam Ende Dezember zur Welt.
    Ca. 10 Jahre später fuhren wir nach Berlin und sie konnte die Geschichte selbst erleben.

    1 Jahr nach der Wende arbeitete ich für ca. 6 Monate zwischen Weimar und Blankenhain. Zu der Zeit konnte ich miterleben, wie nach der Wende in West & Ost gedacht und gefühlt wurde.
    Auch sah ich noch den Grenzübergang Eisennach… ich finde es heute noch krass!

    25 Jahre später sehe ich immer noch gerne Berichte aus der DDR und freue mich, dass Deutschland wieder vereinigt ist.
    Abgesehen davon, dass "keiner vor hatte, eine Mauer zu bauen….."

    Happy Wiedervereinigung! 🙂

    • Lomoherz
      Posted at 22:12h, 18 November Antworten

      Lieben Dank, Sandra. Deine Vorliebe für Vögel kenn ich ja 😉 Ich muss gestehen, dass ich noch nie auf einer Schwalbe gefahren bin, obwohl wir noch lange eine im Schuppen stehen hatten 🙁 Aber mein Bruder hat gerade einen Simson Spatz bei sich, den er wieder flottmachen will – ich bin gespannt 🙂
      Unglaublich, dass gleich 2 Frauen davon berichten, zu dieser Zeit hochschwanger gewesen zu sein, wie aufregend, auch das ‚danach’…
      Ich war auch erst zum ersten Mal mit 10 an der „ehemaligen“ Mauer und es war echt nochmal anders als die Erzählungen. Fand es ganz wichtig, dass das Thema zum Jubiläum nochmal aufgearbeitet wurde, und die Lichtlinie in Berlin war ja eh der Hammer…

  • Dani
    Posted at 17:18h, 09 November Antworten

    Ich bin immer wieder auf’s Neue froh, dass dieser Mauerwahnsinn damals endlich ein Ende fand! Ich war damals 19, auch hochschwanger und habe 2 Wochen später meinen Sohn im Sauerland zur Welt gebracht. Wir Wessies hatten fast alle Ossikinder in unseren Schulklassen (bei mir war’s Anett, bei meiner Freundin gab es Zwillinge, Peggy und Kathleen), immer wieder faszinierten mich deren Geschichten aus ihrer alten Heimat aber jedesmal habe ich auch gedacht, dass das doch eigentlich alles nicht wahr sein kann und total ungerecht ist. Ein Hoch auf Gesamtdeutschland! Sag mal Conny, ist der lockige Typ mit Bart in der dritten Fotoreihe von unten dein Papa? Sieht dir jedenfalls verdammt ähnlich! 😉 Mit einem fröhlichen „Auferstanden aus Ruinen“ auf den Lippen sage ich Tschüss für heute, liebe Grüße, Dani 🙂

    • Lomoherz
      Posted at 22:03h, 18 November Antworten

      Danke, Dani. Das muss für dich dann ja nochmal extra-aufregend gewesen sein 🙂 Ich bin auch heilfroh, stell dir nur mal vor…obwohl, eigentlich kann ich mir das nicht vorstellen.
      In der Tat, das ist mein Papa, er ist auch noch auf ein paar anderen Fotos. Und daneben meine Mama mit ihrem Lieblingsschnäppi in der Hand – Eierlikör. Und jetzt rate mal, wer von den beiden mir seine Haare vererbt hat 😉

  • Anne
    Posted at 20:21h, 09 November Antworten

    das ist ein schöner artikel! und die fotos sind so goldig! aus meiner familie gibt es ganz ähnliche. meine erinnerung ist zum großen teil eigentlich nur an-erzählt, obwohl ich zwar fast vier jahre alt war… und wo ich war an diesem tag, das müsste ich direkt mal bei mama und papa erfragen..
    liebste grüßlein zu dir!

    • Lomoherz
      Posted at 21:57h, 18 November Antworten

      Lieben Dank! Hihi, ja, ich muss auch immer groß schmunzeln wenn ich die ältesten Familienalben aufschlage 🙂
      Das mit dem an-erzählen geht mir ganz genauso…aber frag doch mal nach! Über Mamas Antwort war ich jedenfalls ziemlich überrascht…hehe.
      Schöne Grüße!

  • Paleica
    Posted at 12:14h, 11 November Antworten

    ein sehr berührender und wunderschöner beitrag dazu. ich finde dieses thema unheimlich und spannend und unheimlich spannend, es ist so unvorstellbar für mich, ich war noch keine 3 und habe keine erinnerung daran. auch bei uns in österreich gabs die grenze nach „außen“ mit dem eisernen vorhang. ein interessanter film dazu (ulrich seidl, wenn ich mich recht entsinne): mit verlust ist zu rechnen. unbeschreiblich, dass menschen meiner generation so etwas noch miterlebt haben…

    • Lomoherz
      Posted at 21:53h, 18 November Antworten

      Dankeschön. Dein Kommentar trifft es richtig gut, genauso empfinde ich auch. Danke für den Filmtipp, werde ich mal raussuchen!

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